Habe ich schon erzählt, dass ich neben meiner Tätigkeit als Coach mit meinem Mann ein Café betreibe?

Ich liebe die Arbeit in diesem Café und jeden Tag lernt man neue Menschen kennen. So wie Rudi vergangenen Samstag.

Es ist ein trubeliger Samstag Nachmittag. Wir erwarten eine Hochzeitsgesellschaft, das Café ist schon feierlich eingedeckt. Draußen hat sich endlich die Sonne durch eine dicke Wolkenschicht gekämpft, doch es weht ein kalter Wind.

Ein braunhaariger Mann Mitte Fünfzig steht am Tresen und bestellt Kaffee und Erdbeerkuchen. „Und wo kann man sich jetzt hinsetzen? Hier sind ja alle Tische eingedeckt?“, fragt er und mir entgeht nicht der schwache bayerische Akzent und eine leichte Spur von – ja was ist das – Verletztheit? „Sie können sich doch auf die Terrasse in die Sonne setzen.“ sagt meine Kollegin freundlich, doch mir ist klar, dass das nicht ist, was er möchte.

„Soll ich Ihnen meinen Lieblingsplatz zeigen?“ frage ich ihn daher verschmitzt und da er mir bereitwillig folgt, führe ich ihn hinaus ins Foyer, wo umgeben von grauem Beton zwei alte grüne Sessel stehen, die - könnten sie sprechen - sicherlich einiges zu erzählen hätten. Von traurigen und glücklichen Momenten, von dicken Köchen, von hopsenden Kinderfüßen und kotzenden Hochzeitsgästen. Doch wie immer bleiben sie stumm.

Ich lasse mich in einen der beiden Sessel plumpsen und lade den Mann ein in dem zweiten Platz zu nehmen. Äußerlich ernst folgt er meiner Einladung, doch mir entgeht nicht ein belustigtes Funkeln in seinen Augen, als er bemerkt: „Die stehen doch sonst immer im Café!“.

Ein gutaussehendes Pärchen durchquert das Foyer, amüsiert schauen sie zu uns herüber. „Sehen sie die?“, sage ich zu meinem neuen Bekannten? Die sind ganz neidisch auf uns, ich sag’s ja, das ist der beste Platz im Haus.“

Wir beginnen uns zu unterhalten und er wirkt nicht unglücklich über die unerwartete Gesellschaft und meine flapsige Art, denn auch wenn er äußerlich kaum eine Miene verzieht, bemerke ich doch das belustigte Blitzen in seinen Augen. Ich erfahre, dass er Rudi heißt und aus Rosenheim stammt. Zwei Bayern gestrandet im Foyer eines kleinen Cafés auf einer gottverlassenen Insel irgendwo zwischen Norderelbe und Billwerder Bucht. Wie das Leben so spielt…

„Jobbst Du hier, und was machst du denn den Rest der Woche?“ Amüsiert frage ich mich, was diese Frage wohl über sein Denken aussagt. „Als gebildeter Mensch arbeitet man doch nicht in einem Café.“ „Das ist doch nichts Richtiges.“ Vielleicht.

„Ich bin Coach.“ sage ich und erkläre ein bisschen, was ich tue. „Das brauche ich nicht!“ sagt er. „Schon ausgecoacht“ bemerke ich mit einem Augenzwinkern. „So wie austherapiert, hoffnungslos therapieresistent…!“ Doch ich bemerke, dass das schalkhafte aus seinen Augen verschwunden ist. Er wirkt auf einmal ernst und nach innen gekehrt. „Es gibt Dinge, die kann man nicht ändern! Was momentan in der Welt geschieht…“ Er hebt den Blick und sieht mich traurig an. Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll und schweige.

Und dann habe ich heute morgen etwas gehört, wobei ich an Rudi denken musste. Es ging um den österreichischen Psychiater und Neurologen Viktor Frankl. Frankl war Jude. Seine Familie wurde, mit Ausnahme seiner Schwester, von den Nazis getötet, er selbst wurde ins Konzentrationslager gesperrt und musste schreckliche Gräuel über sich ergehen lassen. Doch inmitten dieser grauenhaften Situation machte Frankl eine Entdeckung, die er später während seiner Lehrtätigkeit an der Universität als „die letzte Freiheit des Menschen“ bezeichnete. Denn so sehr die Nazis auch äußerliche über ihn bestimmen und Macht ausüben konnten und so sehr er ihnen äußerlich ausgeliefert war, innerlich war er noch immer ein sich selbst wahrnehmendes Wesen und besaß die Freiheit, darüber zu bestimmen, wie sich all das, was er erlebte auf ihn auswirken würde.

„Zwischen Reiz und Reaktion hat der Mensch die Freiheit zu wählen!“*

Ich wünschte Rudi wäre jetzt da, damit ich ihn schütteln und ihm diesen Satz ins Gesicht rufen könnte!

Du musst nicht erstarren, nicht resignieren angesichts der schrecklichen Dinge, die in der Welt geschehen!

Zwischen Reiz und Reaktion hat der Mensch die Freiheit zu wählen! Du kannst traurig sein, du kannst wütend sein, du kannst deine Wut hinausschreien und mit anderen teilen, die ähnlich fühlen, denn glaub mir, davon gibt es viele! Du kannst Bundeskanzler werden oder dir eine Handgranate kaufen…

Du kannst entsetzt sein und bemerken, dass das, was in der Welt geschieht nicht deinen Werten entspricht! Du kannst für dich entscheiden: „So geht das nicht, in so einer Welt möchte ich nicht leben!“ Du kannst bei Dir anfangen und jeden Tag der Mensch sein, der du gerne sein möchtest, die Welt im Kleinen ändern. Wenn Du Geld hast, kannst Du Geld spenden oder du kannst ein Lächeln schenken, ein nettes Wort, einen Moment deiner Zeit!

Ich glaube schon, dass wir einen Einfluss haben! Wir können unsere Welt zu einem besseren Ort machen, Rudi, jeden Tag!

 

* Das Zitat stammt aus "Die 7 Wege zur Effektivität." von Stephen R. Covey

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